Die Kabbala, die von jeher gleichsam die Gegenphilosophie der Orthodoxen war, begann sich in Polen auszubreiten, noch ehe der neue palästinensische Zweig dieser Lehre, die praktische Kabbala des Ari (oben, § 8), seine ersten Blüten getrieben hatte. Durch die Drucklegung des „Sohar" in Italien wurde nämlich die allgemeine Aufmerksamkeit auf dieses rätselhafte, verführerische Buch gelenkt, für das man sich umso mehr begeisterte, je weniger man es verstand. Sogar Moses Isserles, der von dem Rationalismus des Maimonides. nicht ganz unbeeinflußt geblieben war, brachte dem „Sohar" alle Achtung entgegen, wiewohl ihm die darin dargelegten Ansichten für die religiöse Praxis als durchaus unverbindlich galten. Wie manch anderer vor ihm, glaubte freilich auch Isserles, daß sich nur Auserlesene mit den kabbalistischen Lehren befassen dürften, und war tief empört darüber, daß „viele einfache Leute sich auf das Studium der Kabbala werfen, die namentlich in der Darstellung der Neuesten so lieblich abzusehen ist". „Heutzutage — so schreibt er —, da der Sohar, das Buch des Recanati und die ,Tore des Lichtes` gedruckt vorliegen und allen zugänglich sind, versteht ein jeder ihren Inhalt auf seine Art, und zwar nicht selten ganz schief. Nicht nur gebildete, sondern auch ganz unwissende Leute, die nicht einmal ein Kapitel aus der Bibel oder den Raschikommentar dazu zu erläutern vermögen, wagen sich nun an die Kabbala heran, und jeder, der in die kabbalistischen Bücher auch nur einen flüchtigen Blick geworfen hat, steht nicht an, sich dessen zu rühmen und diese Lehre aller Welt zu predigen". Am verfänglichsten für die Volksmassen sei, so meinte Ramo, die von Zweideutigkeiten nicht ganz freie Lehre von den „Sefiroth", die von manchen nicht als Attribute der Gottheit, sondern als selbständig in der Welt wirkende göttliche Mächte aufgefaßt werden. Mit viel größerer Entschiedenheit als Isserles trat für die Kabbala sein Jünger Mardochai Jaffe ein, dessen Kommentar zum Werke des Recanati (Band V, § 29) in echt kabbalistischem Geiste geschrieben ist; so fand er z. B. nichts Anstößiges daran, daß man zu den „Sefiroth" Gebete emporsende, durch die die höheren Welten beeinflußt werden sollten. Seine Kenntnis der „Geheimwissenschaft" hatte Jaffe dem Mattathias Delakrut aus Krakau zu verdanken, der sie seinerzeit in Italien studiert hatte. Im Jahre 1600 erschien in Krakau, mit Kommentaren des Delakrut versehen, das auch von Ramo mitberücksichtigte Werk des spanischen Kabbalisten des XIV. Jahrhunderts, Joseph Gikatilla (Band V, § 18), „Schaare ora", d. h. „Tore des Lichts", das gleichsam eine Brücke zwischen der alten spekulativen Kabbala und dem neuen, sich mit Blitzesschnelle verbreitenden System des Ari-Vital bildete. Die erste große Eroberung, die die praktische Kabbala in Polen machte, war der schon erwähnte Krakauer Oberrabbiner Joel Sirkes, dem, wie erinnerlich, die Philosophie eine „Hure", die Kabbala aber die ,geheiligte „wahre Wissenschaft" war. Ein anderer Krakauer Gelehrter, der Prediger Nathan Schpiro (gest. um 1633), tritt uns bereits als ausgesprochener Fachmann auf dem Gebiete der kabbalistischen Praxis entgegen. Die Volkswagen verherrlichte ihn als heiligen Mann, und selbst auf seinem Grabstein ist zu lesen: „Es heiß von ihm, der Prophet Elias hätte von Angesicht zu Angesicht mit ihm gesprochen". Man erzählte sich, daß solche Visionen Nathan nach andauernden asketischen Exerzitien zuteil geworden seien, und daß es seine ständige Gewohnheit gewesen sei, mitten in der Nacht aufzustehen, um Klagelieder über den zerstörten Tempel und das zerstreute Volk anzustimmen. Die von ihm in seinem Werke „Aufgedeckte Tiefen" („Megale Amukoth", Krakau 1637) dargelegte Lehre hat zu ihrem Mittelpunkt das Problem der Sande und der Erlösung. Nach dem Sündenfall wäre es, so führte er aus, in der Welt zu einer Vermischung des Guten und Bösen gekommen, worauf dann das Gute in Abel, das Böse in Kain seine Verkörperung gefunden hätte; seitdem bestehe der ganze Sinn des menschlichen Daseins nur darin, durch Taten des Glaubens und durch Selbstvervollkommnung im Dunkel des Bösen Funken des Guten aufblitzen zu lassen. Auch das Volk Israel sei nur um deswillen über die ganze Welt zerstreut worden, damit seine Seele im Schmelztiegel der Leiden geläutert werde. Diesem Prozeß der Vervollkommnung diene vor allem der „Gilgul" oder die Seelenwanderung, auf der die Seele solange aus einem Körper in den anderen hinüberwechsle, bis sie ihre Sünden endgültig abgebüßt habe. Wenn auf diese Weise alle Seelen der Läuterung teilhaftig geworden seien, werde sich der Messias offenbaren und die „Welt der Vollkommenheit" („Olam ha'tikkun") das All umspannen. All diese mystischen Ideen brachte Nathan Schpiro in so verschwommener Form zum Ausdruck, daß sein „Tiefen entdeckendes" Hauptwerk weniger von Tiefsinn als von Verschrobenheit zeugt. Verrät es doch letzten Endes den allgewaltigen Einfluß der rabbinischen Scho-lastik: seinen Grundstock bildet die Aneinanderreihung von nicht weniger als zweihundertzweiundfünfzig Deutungsweisen der von Mo-ses an Gott gerichteten Bitte um Einlaß in das Gelobte Land (Deut. 3, 23-26). Es zieht hier an uns eine lange Kette kabbalistischer Wortspielereien und aus der Luft gegriffener Deuteleien vorbei, die so wunderliche Behauptungen ergeben, wie etwa die, daß Moses zu Gott um das Erscheinen der beiden Messiasse, des Ben Joseph und des Ben David, gebetet habe und daß er von dem Willen beseelt gewesen sei, die Macht des Satans zu brechen und alle Sünden, die Israel je begehen würde, im voraus zu sühnen. Das Bestreben des Nathan Schpiro ging offenbar dahin, die Methoden des rabbinischen „Pilpuls" auch auf die Kabbala auszudehnen, und so. schuf er eine Art dialektischer Mystik, die ebenso wenig mit wahrer Theologie gemein hat, wie scholastische Spitzfindigkeit mit wissenschaftlichem Denken. Das Verdienst, die praktische Kabbala ,und namentlich das System der asketischen Moral in Polen volkstümlich gemacht zu haben, ist vor allem den Schöpfern der „Zwei Gesetzestafeln" („Scheloh"), Jesaja und Scheftel Horowitz zuzurechnen, von denen bereits ausführlich die Rede war (oben, § 31). Das von Horowitz dem ÄIteren abgefaßte und von seinem Sohne ergänzte Werk erschien jedoch im Druck erst im Jahre 1653 und ist daher bei der Darstellung dor folgenden Epoche eingehender zu berücksichtigen.